Das Jesuitenkolleg in Polozk

Im Jahr 1580 wurde in Polozk, unterstützt vom polnischen König und Großfürsten von Litauen, Stefan Batory (1533-1586), ein Jesuitenkolleg gegründet. Erster Rektor wurde der Jesuitenmönch Peter Skarga (1536-1612).

Die Gebäude des Kollegs sowie die zugehörige Kirche standen zunächst auf einer Insel im Fluss Dwina (Düna). Sie wurden in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch einen Brand vernichtet, woraufhin das Kolleg am neuen Standort im Stadtzentrum nahe des (nicht erhaltenen) Oberen Schlosses neu erbaut wurde. Schließlich wurde 1750 ein neues, nun aus Stein gebautes, dreistöckiges Kollegiengebäude errichtet.

Nach der ersten polnischen Teilung (1772) gelangte der östliche Teil des heutigen Belarus, in dem sich auch Polozk befand, ans Russische Reich. Im folgenden Jahr löste Papst Clemens XIV. (1705-1774) den Jesuitenorden auf. Zarin Katharina II. ließ diese Entscheidung nicht umsetzen, da im russisch-orthodoxen Russland die päpstliche Autorität nicht anerkannt war. Auch wollte man die Bildungseinrichtungen, die vom Jesuitenorden betrieben wurden, nicht schließen. Und nicht zuletzt waren für die Katholiken in den ehemals polnischen Territorien, die nach der Teilung dem Russischen Reich zugefallen waren, weiterhin katholische Geistliche als Seelsorger nötig. So bestand das Jesuitenkolleg in Polozk weiter und wurde in Russland geistiges und geistliches Zentrum des Ordens.

Frontansicht des Kollegs. Aus: Juri Tschanturija: Belorusskoje gradostroitelnoje iskusstwo. Srednewekowoje nasledie, renessans, barokko, klassizism w sisteme jewropejskogo sodtschestwa (Die belorussische Stadtbaukunst. Das mittelalterliche Erbe, die Rennaisance, das Barock, der Klassizismus im System der europäischen Baukunst). Minsk 2017, S. 84.

Folgerichtig wurden die Klosteranlagen in den folgenden Jahren um verschiedene Verwaltungs- und Wirtschaftseinrichtungen erweitert. Getreidespeicher, Ställe, eine Remise, eine Bäckerei, eine Räucherei, eine Brauerei, Werkstätten, eine Druckerei und sogar eine Tuchfabrik wurden eingerichtet, ferner gab es eine Apotheke, ein Armenhaus und ein Konzerthaus. Das Kolleg wurde zu einer der reichsten Einrichtungen seiner Art in Belarus. Auch eine Reihe von Gutshöfen und deren Zweigbetrieben gehörten dazu, auf denen insgesamt mehrere tausend Menschen lebten und arbeiteten.

Plan des Jesuitenkollegs. Aus: Juri Tschanturija: Die belorussische Stadtbaukunst (a.a.O.)

Am 12. Januar 1812 wurde das Kolleg von Zar Alexander I. in eine Akademie mit den Rechten einer Universität umgewandelt. Sie bestand acht Jahre lang bis 1820 und war die erste höhere Bildungseinrichtung auf dem Gebiet des heutigen Belarus.

Der Eingang zum Jesuitenkolleg. Aus: Urbański, Antoni: Podzwonne na zgliszczach Litwy i Rusi (Ein Gruß an die Ruinen von Litauen und Russland). Warschau 1928, S. 159.

Als Anfang Februar 1820 der Generalobere des Jesuitenordens, Thaddeusz Brzozowski (geb. 1749) starb, verbannte Zar Alexander I. die Jesuiten aus dem Russischen Reich und löste die Akademie von Polozk auf. Die 60.000 Bände ihrer Bibliothek wurden an verschiedene Lehranstalten im gesamten Russischen Reich verteilt. Zwischen 1831 und 1833 wurden die Klostergebäude zu einer Militärschule für Kadetten umgebaut. Die Kirche wurde russisch-orthodox und dem Hl. Nikolaus geweiht.

In den darauffolgenden gut einhundert Jahren hatte Polozk in hohem Maße unter den Konflikten und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts zu leiden. Als besonders verlustreich erwiesen sich die Besetzung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht 1941 und die Kämpfe während der sowjetischen Gegenoffensive, die 1944 zur Befreiung der Stadt, aber auch zu ihrer fast gänzlichen Zerstörung führten. Die St. Nikolaus-Kathedrale stand als Ruine noch fast zwanzig Jahre, bis sie 1964 gesprengt wurde. Damit verlor das barock-klassizistische Ensemble endgültig seinen architektonischen Fixpunkt.

Die verbliebenen Gebäude wurden zwischen 2003 und 2005 restauriert. Heute sind darin die Fakultäten für Geisteswissenschaften und für Informatik der Staatlichen Universität Polozk untergebracht.