Puppentheater in Russland und Weißrussland

Die frühesten Zeugnisse über das Puppentheater in Russland stammen von dem deutschen Gelehrten Adam Olearius (1599–1671). Als Mitglied einer über Russland nach Persien reisenden Gesandtschaft weilte er zwischen März und Dezember 1636 in Russland, wo er die skomorochi erlebte, die Spielmänner und fahrenden Komödianten:

Es pflegen auch solche abscheuliche Dinge die Bierfidler auf öffentlicher Strasse zu singen / etliche dem jungen Volcke und Kindern in einem Kunzgen- oder Poppenspiel umbs Geld zu zeigen. Dan ihre Bärendäntzer haben auch solche Comedianten bey sich / die unter andern alsbald einen Possen […] mit Poppen agiren können; Binden umb den Leib eine Decke / und staffeln sie über sich / machen also ein theatrum portatile oder Schauplatz / mit welchen sie durch die Gassen umbher lauffen / und darauf die Poppen spielen lassen können (Olearius, Adamus: Des Welt-berühmten Adami Olearii colligirte und viel vermehrte Reise-Beschreibungen Bestehend in der nach Mußkau und Persien. Hamburg 1696. 3. Buch, S. 98.). Wie in anderen Regionen Westeuropas ist das Puppenspiel auch in Russland zunächst auf traditionelle Bräuche und heidnische Lebensvorstellungen zurückführbar und nahm erst später – ebenfalls nach ausländischem Vorbild – satirischen Charakter an. Zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert erfreute sich die Figur des Petruschka besonderer Popularität. Er überwindet nicht nur die weltliche und geistliche Obrigkeit, sondern erweist sich sich auch in Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Teufel als der Stärkere.

Die Untermalung der zumeist von 1–2 Personen gespielten Szenen besorgten zunächst Gusli- und Pfeifenspieler. Ab Ende des 19. Jahrhunderts begleiten immer häufiger Drehorgeln die Vorstellungen. Die „Bühne“ gaben Schürzen ab, die am Gürtel der Puppenspieler befestigt und nach oben über die Köpfe gezogen wurden, später wurden einfache, ein- bis dreiteilige Wandschirme verwendet, oder man warf ein größeres Stück Stoff über eine zwischen zwei Stangen gespannte Schnur. Die Puppenspieler benutzten Handpuppen mit großen, aus Holz geschnitzten oder aus Lappen und Karton geformten und auf den Zeigefinger gesteckten Köpfen. Der allegorische Charakter der Handlung bewirkte eine stark verallgemeinerte Darstellung der Charaktere ohne detailliertere Ausgestaltung.

In Weißrussland verbreitete sich bereits an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert das mystisch-religiöse Theater (Batlejka), in dem zunächst Szenen aus den Evangelien dargestellt wurden. Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts fanden auch Sujets aus dem täglichen Leben der Menschen Einzug in die Vorstellungen. Die Charaktere wurden vielfältiger: Neben den „Moskowiter“ traten Zigeuner, polnische Pani (Herren), Schankwirte, der Bauer Mosej und andere Personen.

Die Figur des Petruschka verlor seit Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich an Kontur, als die Rückständigkeit der traditionellen Komödie mit dem Erwachen eines bürgerlichen Gesellschaftsbewusstseins immer offenkundiger wurde. Die fahrenden Puppenspieler gerieten unter Verfolgung, und auch die Versuche satirischer Schriftsteller wie W. S. Kurotschkin (1831–1875), das Puppentheater durch die Erweiterung des Repertoires zu erneuern, waren wegen der allgegenwärtigen zaristischen Zensur nicht von Erfolg gekrönt. Gleichzeitig versuchten Anhänger wie Gegner der Autokratie, die Volksnähe des Puppentheaters für sich zu nutzen.

Bis zur Oktoberrevolution hatten solche Bemühungen nur geringen Erfolg. Nach 1918 gewann jedoch das Puppentheater als Theater für Kinder wie als Bühne für politische Agitation erneut an Bedeutung. Zur Aufführung kamen sowohl Klassiker (z.B. Das Märchen vom Zaren Saltan und die Fabeln I. A. Krylovs, 1769–1844) als auch allegorische Sujets wie David und Goliath (David i Goliaf) oder Der Krieg der Kartenkönige (Wojna kartotschnych korolej). Das sog. Agit-Theater verbreitete sich besonders stark in den Jahren des Bürgerkriegs; aufgeführt wurden Werke von W. W. Majakowski (1893–1930), Demjan Bednyj (1883–1945) und anderen zeitgenössischen Dichtern und Schriftstellern.

Als folgenreich für die Geschichte des sowjetischen Puppentheaters erwies sich das Mitte der 1920-er Jahre gegründete Leningrader Puppentheater (Leningradski teatr kukol), an dem professionelle Dramaturgen, Komponisten, Maler und Bildhauer beschäftigt waren und bald auch professionelle Puppenspieler ausgebildet wurden. Diesem Beispiel folgend, wurden auch in anderen Städten der Sowjetunion Puppen- und Marionettentheater wiederbelebt oder ins Leben gerufen. Das Zentrale Puppentheater (Cetral’nyj teatr kukol; 1930) erweiterte und systematisierte die darstellerischen Möglichkeiten dieser speziellen Form der szenischen Darstellung. Auch hier wurden Klassiker der Weltliteratur neben Werken sowjetischer Schriftsteller auf die Bühne gebracht.

Während des 2. Weltkriegs wurde die Tradition des Agit-Theaters wiederbelebt. In den 1950-er und 1960-er Jahren erfuhr das Figurentheater immer stärkere Verbreitung; die Zahl der Theater wuchs, man organisierte nationale und internationale Wettbewerbe. In ganz Osteuropa wurden feste staatliche Bühnen eingerichtet, die damit verknüpften Berufe wurden in umfangreichen Ausbildungen vermittelt. Bis heute existieren viele dieser Häuser auch in Weißrussland. Weiterhin staatlich organisiert und finanziert, haben sie zwar mit baufälligen Gebäuden und wachsenden Betriebskosten zu kämpfen, sind jedoch zugleich fester Bestandteil der weißrussischen Kulturlandschaft. Das Repertoire richtet sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Erwachsene und umfasst wie bisher die Klassiker der Weltliteratur, der russischen und sowjetischen Literaturgeschichte sowie neue, speziell für die Puppenbühnen geschriebene Stücke.