In Belarus mit seinen weiten Wiesenlandschaften und Feuchtgebieten ist der Weißstorch noch weit verbreitet. Zwischen Anfang April und Ende August sind die Vögel fester Bestandteil des ländlichen und dörflichen Lebens. Auf Bäumen, Gebäuden und den Holzmasten von Telefonleitungen kann man sie beim Nestbau und bei der Brutpflege beobachten – nicht selten Dutzende von Brutpaaren pro Dorf. Nicht umsonst nannte der Dichter Wladimir Korotkéwitsch (1930–1984) seine Heimat Belarus deshalb „Das Land unter weißen Flügeln“.
Der Weißstorch ist noch immer eine Art inoffizielles Wappentier von Belarus. Er galt als der Hüter der Wohnungen von Perun, dem obersten Gott in der slawischen Mythologie. Da ein Storchenpaar jahrelang zusammenbleibt, fungiert der Vogel im Volksglauben auch als Sinnbild für ein harmonisches Familienleben und – wegen seiner Ankunft nach dem Ende des Winters – als Vorbote des Frühlings. In ein Haus, auf dessen Dach Störche nisten, ziehen Glück und Harmonie ein, Zwietracht und Streit in der Familie enden, die Kinder wachsen gesund auf, und dem Hof wird eine gute Ernte beschieden sein. Das Weiß und Rot von Gefieder, Beinen und Schnabel werden mit der nationalen Farbsymbolik assoziiert. Der südöstlich der Stadt Pinsk und nur 15 Kilometer von der Grenze zur Ukraine gelegene Ort Stolin führt einen Storch im Stadtwappen:
Eine der zahlreichen Sagen aus dem reichen belarussischen Märchenschatz erzählt von der Herkunft des Storchs. Vor urdenklichen Zeiten widersetzte sich ein Mann dem göttlichen Befehl, einen mit „greulichem Getier“ (Schlangen, Fröschen und Insekten) gefüllten Beutel in einen Abgrund zu schleudern. Stattdessen schnürte den Beutel auf, und die darin gefangenen Kreaturen entwischten. Der Mann wurde zur Strafe in einen Storch verwandelt und muss fortan ewig das einsammeln, was er einst aus Ungehorsam und Neugierde freiließ.